Gänsehaut und wirkliches Leben


30.04.2023 / Claudia Pinkl /

Über den Besuch im Landesmuseum Niederösterreich, mein Nichtbesuch beim 30-jährigen Matura-Treffen, die Moderation bei einem Konzert und das Schneiden der Haare und Zehennägel bei meinem dementen Vater.

Ja, so soll Wissensvermittlung sein.

Gestern war ein äußerst herausfordernder Tag. In aller Früh nach St. Pölten ins Landesmuseum. Dort hab ich eine Führung für meine Master-Student*innen gebucht. Zeitig für einen Samstag ist es um 9:00 losgegangen. Der Kulturvermittler, ein Mann, der sein Herz an die Geschichte und die Erhaltung der Donau-Auen verloren hat und Geschichte als Lehramt studiert gehabt hat, ließ mich 2 Stunden an seinen Lippen hängen. Wow – da war so viel Begeisterung zu spüren! Der rote Faden, den er gelegt hat, war mühelos zu verfolgen. Die herausragenden Ecken, die er im „Haus der Geschichte“ für lebensnahe Erzählungen ausgewählt hat und mit denen er uns Zeitsprünge erleben ließ, haben wir mit Leichtigkeit gefunden. Die Stories, die Bilder, die Impulse und auch seine mahnenden Worte an meine Studentinnen und Studenten. … Ich bin beflügelt. Geflasht. Angefixt. Berührt. Inspiriert. Spüre seine Herzfrequenz für die Themen immer noch. Gänsehaut.

Wenn der Herzschlag daFÜR zu spüren ist

Als ich heimgekommen bin, war in Pinklhausen Besuch da. Unerwartet. Das sind die schönsten Besuche. Finde ich mittlerweile. Weil ich mir dann im Vorfeld keine Gedanken machen muss, ob das pinklische Zuhause den Erwartungen der Besucher*innen entspricht. Ob der Bodenlurch sich verkrümelt hat und das WC noch spurenloser und ungebrauchter ist als an „normalen Pinklmann&-frauwohnenalleinedaheimTagen“. (Und da ist es zu 99,5% sauber, weil es uns wichtig ist.) Zum Essen und Trinken gibt es immer genug.

Also haben wir dem Pinklmann beim Kochen zugeschaut und Prosecco getrunken. Dann gemeinsam gegessen und ein 2. Glas genossen, gelacht und geplaudert. Einen Moment lang habe ich überlegt, ob ich mich zusammenpacken soll. Weil ja mein 30-jähriges Matura-Treffen gewesen wäre. Und dann, dann war ich ganz arg bei mir: „Nein. Heute nicht. Ich bin da, wo ich bin, und das ist im Hier und Jetzt. Die Vergangenheit darf bleiben, wo sie war. Die Zukunft passiert durch mein bewusstes Sein“, hab ich beschlossen. Ein Atemzug – ein kleiner Herzschmerz. „Hmmm – nein, ich werde ein Telefonat führen und mir im Sommer einen Termin mit ihr ausmachen. In aller Ruhe. Mit ihr. Mit einer ehemaligen Klassenkollegin. Ja, das werde ich machen. Und jetzt bleib ich da und plaudere noch mit meinem Pinklmann“, war dann mein Entschluss. Der Herzschlag hat sich eindeutig für etwas Anderes entschieden als das Klassentreffen. Gänsehaut.

Ein gehaltenes Versprechen

Am Abend, als es dann zur Abwechslung wieder so richtig zu schütten begonnen hat, bin ich nach Forchtenstein gefahren. Der Weg erschien endlos. Gesehen hab ich zeitweise gar nichts. Einen kleinen Moment hab ich mir gedacht: „Stehenbleiben. Umdrehen. Ab nach Hause. Raus aus dem hübschen Gewand. Runter mit der Schminke und ab in die Infrarotkabine.“ Ich hab’s eh nicht gemacht, weil sonst der Musikverein kopfgestanden wäre. Ich hab es versprochen gehabt, das Konzert zu moderieren. Damals, im Herbst 2019, als mein Pinklmann den Kapellmeister an Hans-Bernd abgegeben hat. Da hab ich versprochen beim nächsten Konzert im Frühling 2020 für Atempausen, Regenerationsphasen und die einen und anderen Lacher zu sorgen. Wumm! Nix war 2020. Auch nicht 2021 und 2022. Erst jetzt, 2023 hab ich das Versprechen einlösen können.

Das Konzert des Musikvereins hab ich ehrlich bereichernd empfunden. Die Gemeinschaft der Menschen auf der Bühne war zu spüren. Die Freude am gemeinsamen Tun. Diese Qualität, die entsteht, wenn man etwas erschaffen kann und geschafft hat, auch wenn der Weg dorthin mitunter nicht immer einfach ist. Ich hab diese Qualität während des Konzerts gespürt. Mehrmals Gänsehaut gehabt. Weil der Verein wieder neu zusammengewachsen ist. Und weil der Hans-Bernd als Kapellmeister sein Ding macht. Seinen Platz markiert. Einfach er ist, wie er ist! Und weil der Verein knapp 10 junge Musiker*innen in der Warteschlange hat und 10 weitere im letzten Jahr dazu gekommen sind – das geht nur, wenn es Menschen gibt, die ein Ziel haben. Einen Auftrag. Und diesen Auftrag wahrnehmen und leben. Als Obmann zum Beispiel oder als Musikschule-Obfrau. Oder als Mama. Als Papa. Als Mentor*in.

Wenn einer wirklich lebt, dann tun´s die anderen auch!

Die Geschichte zu dem Satz, die hab ich gestern am Abend vorgelesen. Sie handelt vom Leben. Vom Leben, das im Jetzt passiert. Vom Mitlaufen mit den Hunden und Katzen. Von der Freude am Leben, die man/frau sich selbst macht.

Als ich heute, am Sonntag, erst gegen 11:50 mit einem frischen Faschierten Braten, Reis und Gemüse und Kuchen zu meinem Vater kam, hab ich an der Satz gedacht. Voller Begeisterung, weil ich (!) das Mittagessen gekocht habe, stolziere ich ins Haus. Doch da sehe ich, dass Papa bereits isst. Ahhh, die Restl´n von gestern. „Ui, ich bin zu spät. Das ist mir seit Mama nicht mehr lebt, noch nie passiert. Verdammt. Jetzt ist er bestimmt böse. Wird grantig sein. Wahrscheinlich geht es gleich wieder los…“, denke ich noch und merke, dass ich mich in einer Negativ-Gedankenschleife befinde. „Jössas, du hast mi g´schreckt. Schau, i iss grad des guade Essn vo gestan zam. Host a Brot zum Ausschmier´n? Wast, der Soft is sovü guad“, fragt mich mein 82-jähriger Vater mit großen Augen, der es mit unserer engmaschigen Hilfe schafft, noch allein in seinem geliebten Haus zu leben. Ah, na klar, ein Brot. Was wohl sonst? … Ich atme. Lächle über mich. Über meine Gedanken. Und über ihn. Und seine Wünsche. Das Leben darf in seiner Kompliziertheit auch einfach sein. Gänsehaut läuft mir über den Rücken.

Ja, heute ist es wieder soweit, Papa!

Nachdem er mit dem Brot wirklich jeden Tropfen Sauce aus dem Geschirr geputzt hat, sitzt Papa eine Viertelstunde später im Badezimmer. Haarschneiden, Fußpflege und Gewandwechsel stehen am Programm. Was für ein Glück, dass ich seit ich denken kann, Friseure studiere, wenn sie mir meine Kurzhaarfrisur schneiden. Wie ein Semi-Profi agiere ich mit Kamm und Haarschneider. Schwups – da sitzt wieder ein adretter Mann vor mir. Ich schau ihn an und sehe, dass seine Augen rot und wässrig werden. Das kenn ich schon. Immer, wenn ich ihm was zu essen bringe, weint er. Aber beim Haarschnitt war das noch nie. Ich frage nach, was ihn traurig macht. Warum er Tränen in den Augen hat.

Ganz unsicher schaut er mich an. Wie ein kleines Kind, das Angst hat, etwas Falsches zu sagen. Überlegt, wie er es sagen soll. „Da. Da ist eine Kante. Schau.“ Ich setze meinen Kontrollblick auf und versuche durch seine Augen zu schauen. Wirklich! Ich erkenne die „Kante“. Da sind ein paar Haare länger. Ich schmunzle. Sein Aussehen war ihm immer wichtig. Und seine Haare auch. Also habe ich nachjustiert. Ein bisserl geschnipselt. Und nachgefragt. Er schaut in den Spiegel, schaut mich an und hat schon wieder rote, wässrige Augen. „OMG – was ist jetzt schon wieder?!“, will sich gerade in meinem Kopf breitmachen. Da setzt er ein Lächeln auf und sagt: „Dass du so auf mich schaust! Und dass ich nirgends wo hin muss. Dass du dich so um mich kümmerst…“ Gänsehaut. Unser Zehennägel-Ritual haben wir schweigend erledigt.

Wer hätte das gedacht…

Vor einem Jahr noch hätte ich energisch den Kopf geschüttelt, wenn man mir gesagt hätte, dass ich mich um meinen Vater kümmern werde. Um jenen Mann, dem ich nie entsprochen habe. Der mir vor vielen Jahren mehrmals lautstark an den Kopf geworfen hat, dass ich „das Letzte auf Gottes Erdboden bin – wertlos – dass sein Leben ein Besseres wäre, wenn es mich nicht geben würde“. Da hat es dann gereicht. Für sieben Jahre. 7 Jahre Pause. Bis dann eben der Sterbeprozess meiner Mutter begann. Und ich für mich, meine Kinder und auch meine Eltern einiges auflösen wollte. Und meinen Platz erneut einnahm. Doch dieses Mal mit einem anderen Bewusstsein. Mit einer anderen Haltung.

„Ja, Papa, ich bin da. Ich bin deine Tochter und nehme meinen Platz ein. Ich schneide deine Nägel. Danke dir dabei für mein Leben. Und auch dafür, dass du deine Rolle vortrefflich lebst. Mit allen Höhen und Tiefen und Herausforderungen. Du lebst deine Rolle und ich durfte dafür durch die „Rue de la Gack“ gehen (und manchmal darf ich es immer noch). Ich musste mich finden. Durfte zu mir finden. Danke dafür“, verneige ich mich schweigend vor ihm.

… und schreibe darüber in Blogs, die ganz ehrlich sind. Die andere Menschen berühren. Und auch sie vielleicht ein Stück weit zu sich selbst begleiten.

Buchtipp: Clarissa Pinkola Estés (03/2012): Der Tanz der Großen Mutter. Von der Jugend des Alters und der Reife der Jugend. (Bild ebd. S. 15)