Ich bin da

Das Herz klopft. Nicht vom Stiegen steigen, weil die Schlange am Lift so lang war. Es klopft an. Klopft an das Herz der Frau, die im Raum liegt, den ich betreten werde. Ich bleibe stehen und frage mich: Was bringe ich mit?

Ein kleine Innenschau-Pause

Ein prüfender Blick auf das kleine Säckchen, das ich in meiner rechten Hand halte. Rose – ok. Schwalbe – ok. Vase – ok. Auch die 3 reifen Himbeeren und 2 gelben Tomaten aus dem Garten – ok. Ich? Ich atme aus – halte inne – ok.

Der Spaziergänger, der jahrelang den Wald der kleinen und großen Föhre liebevoll besucht hat, betritt den Raum, in dem die große Schwarzföhre liegt. Ich höre IHRE Stimme. Sie hat einen Klang von Freude in ihr. Ahhh – so klingt sie. Ich versuche nicht zu bewerten. Keine Schubladen der Erinnerungen zu öffnen, um einzusortieren. Schließe für einen Millimoment die Augen und lächle. Ich schenke mir ein Lächeln. Ja, es ist gut, dass du hier bist. Es ist richtig, dass du hier bist. Ich klopfe jetzt bewusst an. Wissentlich. An das Herz meiner Mutter. Ich versuche die Herzensverbindung zwischen ihr und mir zu aktivieren. Und trete ein.

Claudia, was für eine Überraschung

Ich lächle immer noch. Da fällt mir ein – ich habe die Maske auf, sie wird mein Lächeln nicht sehen. Aber spüren tut sie es. Sie schaut mich an, während mich meine Schritte zu ihr bringen. Da, ich sehe es: sie hat ein Blitzen in den müden Augen. Ein Leuchten, das voller Liebe ist und gleichzeitig fragend zu verstehen gibt: Kommst du in Frieden?

Ja. Ich komme in Frieden. In Liebe. In Dankbarkeit. In Wertschätzung. Ich komme im Jetzt. Nicht in der Vergangenheit. Die will ich nicht heraufbeschworen. Ich bin im Reinen mit dem, was geschehen ist. Habe verstanden, was für unterschiedliche Antreiber, Sichtweisen und Gewordenheiten im Hintergrund die Fäden gezogen haben.

Ich bin da

Die Rose zaubert ihr ein Lächeln ins Gesicht. Fragt, ob es eine Rose mit vielen kleinen Dornen ist… Wie symbolisch diese Frage doch ist, denke ich. Ja, es waren Dornen dran, aber ich habe sie alle sorgsam abgebrochen, da ich nur Freude mitbringen will. Sie riecht am Rosmarin, der gemeinsam mit den Olivenzweigen als Grünes der Rose Stütze sein sollen. Wieder ein kleines Lächeln.

Sie spricht viel. In Hochdeutsch. Keine Spur von Dialekt. Kurze Sätze. Sehr bedacht. Die Zähne halten nicht gut im Mund. Ich muss schmunzeln.

Sie fragt nach, was ich so mache. Ich erzähle stolz von meiner Dissertation und dass ich jetzt Frau Doktor Claudia Pinkl bin. Von meiner Arbeit, dem Garten, den Hunden. Und davon, dass heuer so viele Schwalben bei uns geflogen sind. Ach, Schwalben.

Mein kleine Schwalbe

Ich drücke ihr die kleine Schwalbe in die Hand. Sie öffnet die Augen. Ein staunender Blick. Zur Schwalbe. Zu mir. Zur Schwalbe. Zum Spaziergänger, der mir so viel Raum lässt. Wieder zur Schwalbe. Zu mir. Sie lächelt und erzählt, dass ihre Großmutter aus Hamburg sie als Kind immer kleine Schwalbe genannt hat. Sie streichelt die Figur liebevoll mit ihrem Daumen.

Ja, kleine Schwalbe. Ich sehe dich. Du siehst verändert aus. Müde. Schwach. Dein Kopf ist munter. Jetzt. In diesem Moment. Dennoch merke ich, dass es dich anstrengt und zugleich befriedet. Ich spüre dich. Ich spüre mich. Ich merke, dass alle meine Ausbildungen wichtig waren. Für jetzt. Für diesen Moment. Für diesen Abschnitt meines Lebens. Und des Lebens der anderen.

Mama, darf ich wieder kommen?

Während der Spaziergänger, der seinen Platz auf eine wunderbare, nicht zu beschriebene Art und Weise eingenommen hat, ein bisschen mit der großen Schwarzföhre spricht, sitze ich neben ihr und beobachte sie. Lausche in sie hinein. Lausche in mich hinein. Dankbarkeit. Sie breitet sich in mir aus.

Mir fällt ein Satz ein, der mir vor einigen Wochen geschenkt wurde. Geschenkt in Form eines Buches von einer weisen Frau, die mir so nah ist, obwohl sich unsere Wege erst eine Handvoll Male gekreuzt haben.

„Wenn einer wirklich lebt, dann tun´s die anderen auch!“ (Clarissa Pinkola Estés)

Ja, ich lebe wirklich. Ich bin über alle meine Schatten, Ängste, Vorurteile und Gedankenkarusselle gesprungen. Nein, ich bin nicht gesprungen. Ich habe mich viele Jahre – die letzten 7 Jahre (also seit dem Streit) – mit mir, mit meiner Gewordenheit und mit Achtsamkeit so tief auseinandergesetzt, dass ich jetzt hier sein kann. An deiner Seite.

Ich kann sagen: DANKE fürs Leben, Mama. Ich stelle mich nicht mehr über dich, wie ich es viele Jahre aus Unwissenheit heraus gemacht habe. Ich habe meine Wunden, meine tiefen Wunden geleckt, versorgt, mit professioneller Hilfe geheilt. Habe gelernt das Leben als etwas Lebenswertes zu erkennen. Bin dadurch Vorbild für viele geworden. Ich will an deiner Seite von dir lernen. In den Tagen, Wochen, die uns gemeinsam noch geschenkt sind.

Du lächelst, hältst meine Hand und sagst: „Wer es gut mit mir meint, der ist willkommen!“