Ein Urteil fällen

Einen Baum fällen

Ich fühle mich gerade so, als wollte ich mich an den neuen Tisch setzen, obwohl ich doch erst den Baum frisch gefällt habe. Da liegen noch sehr viele Schritte dazwischen, bis es so weit ist. Nun, wie Insider wissen, war Geduld noch nie meine bestausgereifteste Qualität und in Wahrheit würde ich mich gerne selbst überholen. Das geht nicht – weiß ich eh, aber ein bissi träumen wird man wohl noch dürfen, oder?!

Es nimmt Formen an

Ich bin voll im Schreiben. Die Unterlagen für meine Masterarbeit nehmen Formen an. Ein paar Seiten sind auch schon geschrieben. Hab sie meiner Betreuerin geschickt. Zum Lesen. Im ersten Moment war mir nach Party zumute. „Juhu, ich schicke ihr schon mal was! Wow, wie cool ist das?!“ Im zweiten Moment wurde mir klar, dass sie eine noch recht unkoordinierte Sammlung in ihrem Postfach vorfindet. Hmmm … es wird beurteilt. Sie muss es beurteilen. Und dennoch:

Nicht-(Be-)Urteilen

Ja, in der Achtsamkeit ist es eine der Grundqualitäten, die von Jon Kabat-Zinn festgesetzt wurde. Nicht-Urteilen. Als Lehrerin ganz schön schwer. Immerhin sind wir auf urteilen, bewerten, beurteilen vom System ausgerichtet (worden). Und dann kommt die Achtsamkeit mit einem Hüftschwung daher und gibt salopp ein „Hör auf zu beurteilen!“ von sich. Im ersten Moment scheint es schwierig zu sein. Vielleicht hilft diese Parabel, deren Ursprung im Huainanzi zu finden ist:

Der chinesische Bauer

In einem chinesischen Dorf lebte ein Bauer, der ein Pferd hatte. Die Menschen im Dorf bewunderten ihn und sagten: „So ein schönes Pferd, du hast ein Glück!“ Der Bauer antwortete: „Wer weiß?!“ Als das Pferd eines Tages davonlief, grinsten manche Menschen ein bisschen schadenfreudig, und sagten: „Der arme Bauer, jetzt ist sein einziges Pferd weggelaufen.“ Als der Bauer das hörte, murmelte er nur: „Wer weiß?!“ Ein paar Tage später sah man das Pferd des Bauern wieder auf der Koppel mit einer wilden Stute im Spiel, die dem Hengst aus den Bergen gefolgt war. Der Neid der Nachbarn war groß, als sie sagten: „Was für ein Glück!“ Aber der Bauer sagte nur: „Wer weiß?!“ Im Sommer dann stieg der einzige Sohn des Bauern auf das wilde Pferd, um es zu reiten. Plötzlich schreckte das Pferd, bäumte sich auf und der einzige Sohn des Bauern fiel hinunter und verletzte sich schwer. Die Nachbarn schrien auf und sagten: „Oh, der arme Bauer! Sein einziger Sohn! So ein Pech!« Und auch in dieser Situation antwortete der Bauer nur: „Wer weiß?!“Als die Soldaten des Herrschers in das Dorf kamen und alle Jungen und Männer in den Krieg mitnahmen, konnte der Sohn des Bauern aufgrund seiner Verletzung nicht mitgehen. So mancher saß daheim und sagte: „Was hat der für ein Glück!“ Aber der Bauer murmelte nur: „Wer weiß?!“

Nicht-Wissen

In Wahrheit meint das Nicht-Beurteilen, dass wir unser Denken unvoreingenommen beobachten mögen und das erste Urteil, das wir fällen wollten, den ersten Impuls, der in uns hochkommt, reflektieren mögen und erst danach ins Handeln gehen. Wahrlich keine einfache Aufgabe. Herausfordernd, ich weiß, wenn man anderes gewohnt ist, und gleichzeitig so erleichternd … weil ein sich Lösen von den Inhalten unserer Gedanken stattfinden kann.

Ein Urteil fällen

Ich weiß, dass meine Betreuerin ein Urteil fällen wird. Ich freue mich darauf. Weil sie sich in der Materie auskennt. Weil sie weiß, wo der Weg lang geht. Weil sie schon mehr als nur einen Tisch aus einem frisch gefällten Baum gezimmert, ja sogar getischlert hat! Weil sie mir schlussendlich sagen wird, welche Teile aus der Arbeit wieder rausfallen dürfen 😉

Bildquelle: https://www.pexels.com/de-de/foto/apple-laptop-notizbuch-arbeiten-7102/