Essiggurkerl und Rosen


02.09.2022 / Claudia Pinkl /

Nein. Also die esse ich nicht. Nein, wirklich nicht. So was mag ich nicht. Nein, die esse ich nicht.

Der alte Eichenbaum schüttelt durchgehend den Kopf. Essiggurkerl, wie ich denn auf die Idee kommen kann, dass er so was isst. Ich schmunzle. Essiggurkerl hat er immer mögen, der Papa. Scheinbar kann er mit dem Wort nichts mehr anfangen – es fehlt sichtlich die Verbindung zwischen dem „Ding“, dem Geschmack und dem Namen. Die Erinnerung macht anscheinend Urlaub, irgendwo in der Ferne. Auf die kann man nicht mehr mit Sicherheit zählen.

Als er zwei grüne Dinger auf seinem Teller, neben einem Stück Brot, Litauer und der heißbeliebten Dürre entdeckt, schaut er mich fragend an. Ich fordere ihn auf hineinzubeißen. „Kost mal! Ich glaub, dass du es magst“, zwinkere ich ihn an. Mmmmmmh – ich höre ihn schmatzen. „Na so was, das ist aber was Gutes!“ Ich schmunzle wieder. „Gell, Essiggurkerl schmecken fein. Ich hab es ja gewusst“, grinse ich. „Was?! Das sind Essiggurkerl?“, werde ich gefragt. Ich atme, nehme mir auch eins und sage kauend: „Ja, so sagt man zu diesen grünen Dingern.“

Essen ist wichtig

Essen hält Leib und Seele zam. Den Ausspruch kenne ich seit Kindheitstagen. Was auf´n Teller kommt, wird zamgessen. Den Spruch kenn ich auch. Iss was, dass´d groß und stark wirst. Nun, hab ich auch oft gehört.

Jetzt bin ich fürs Essen zuständig. Zum Glück hat der Spaziergänger noch eine andere Großmutter, die selber auch nicht mehr kochen kann bzw. will und sich essenstechnisch verwöhnen lässt. So erfahren wir von einem genialen Mittagsservice, das von Hans Fromwald und seinem Team angeboten wird. Frisch gekochte Wirtshausküche für daheim. Großartig! 2 Mittagsmenüs hat die alte Eiche schon probiert. „So gut“, schwärmt der Eichenbaum und setzt dazu, dass er ein Glück hat, dass es Menschen gibt, die sich um ihn so fein kümmern.

Nicht nur der Eichenbaum ist glücklich. Auch ich – denn ich weiß, dass Papa zumindest 1x am Tag etwas Warmes, Gutes und Nährendes bekommt. Das entspannt ungemein.

Sonne tut gut

Ortswechsel. Am frühen Nachmittag habe ich gestern die große Schwarzföhre besucht. Sie liegt erschöpft im Bett. Ist weiß im Gesicht. Die Augen auf Halbmast. Der Mund offen. Oje, heute schaut sie nicht fein aus, denke ich bei mir. Mich beschleicht ein Gedanke, dass ihr Sonne vielleicht helfen könnte. Also wird Schwester Alexandra gefragt, ob ich das OK bekomme, Mama einfach in den Vorhof entführen zu dürfen. Ihr liebevolles Lächeln ist das schönste JA des heutigen Tages. Jetzt ist Mithilfe von allen Seiten gefragt.

Der Föhrenbaum schafft es, sich aufzusetzen und die Socken selber anzuziehen. Ich applaudiere und strahle wie eine 100ter-Birne. Zuerst rein in die feine dunkelblaue Jogginghose (sie passt farblich sogar zum Nachthemd – was für eine Freude). Dann wird die angenehme Weste angezogen und das schicke Seidentuch umgebunden, dass sich der Föhrenbaum noch zum Geburtstag selbst geschenkt hat. Schwester Alexandra denkt noch an die Frisur und ich an drei Spritzer Parfum. Immerhin sind jetzt zwei Ladys auf dem Weg hinaus in die weite Welt. Da ist ein guter Duft wichtig.

Einige Minuten später sitzen wir zwei am Vorplatz des Lebens.Med in der Sonne. Mama im Rollstuhl. Die Sonne im Rücken. Den Blick zu wunderschönen Rosenstöcken gewandt. Ich auf der Bank. Blick Richtung Mama und Sonne. Wir halten Händchen. Plaudern über Wichtiges. Über Papa. Werfen einen kleinen Blick durch das Schlüsselloch in Richtung Zukunft. Und wir plaudern über den Spaziergänger und den Schmetterling. Auch über die Albträume, die in den letzten Nächten die alte Föhre plagen. Zwischendurch schweigen wir. Dann will Mama Musik vom Musikmacher hören. Die Gedichte und Briefe von James Joyce, die der Musikmacher vertont hat (The Joyce Project – CD-Präsentation am 29. September 2022 in der Sargfabrik) – ja, das gefällt ihr sehr gut. Sie schließt die Augen, hört zu und genießt.

Trinken ist nötig

Nachdem die Wangen ein bisschen Farbe abbekommen haben, fahren wir wieder retour. Kaum im Zimmer gelandet, wird der Wunsch nach Wasser geäußert. Gerne – sie wünscht sich Wasser! Was für ein Erfolg. Anschließend trinkt Mama auch noch ihren Zaubersaft aus – 200ml! Ich juble. Freue mich. Applaudiere. Ihr. Mir. Uns. Der Sonne. Dem Leben. Dem Lebens.Med. Der Schwester Alexandra. Dem lieben Pfleger. Den Rosen. Dem Rollstuhl. Den Socken. Der Hose. Der Kuscheljacke. Dem Duft. Dem Polster im Rücken.

Ich applaudiere, weil meine Intuition richtig war. Wir heute an der Sonne waren. Sie ihr gut getan hat. Und wir mit der Freude an den Rosen, der Sonne und dem Mutter-Tochter-Sein dem Tod zumindest für diesen Moment ein Schnippchen geschlagen haben.



Zum vorhierigen Beitrag
Zum nächsten Beitrag