Schichten


07.09.2022 / Claudia Pinkl /

Da gibt es diese eine Kirche. In die zieht es mich magisch hinein. Jedes Mal. Immer, wenn ich hier bin.

Einfach nur sitzen

Es ist der Geruch. Bestimmt sind es auch die Farben. Und die vielen Mosaiksteine am Boden. Die Kerzen. Es ist die Aura, die dieser besondere Raum ausstrahlt. Und ganz bestimmt ist es die Stille. Die Stille, die mich so magisch anzieht.

Heute ist es nicht still. Nein, es ist Leben in der alten Kirche. Es sind viele Stimmen zu hören. Ein Pfarrer ist mit vier anderen Männern geschäftig unterwegs. Er knatscht unaufgeregt Kaugummi. Ach, das macht ihn sympathisch! Trotz seines Gewandes wirkt er angreifbar. Menschlich. Nicht abgehoben und von einer anderen Welt, sondern einfach sympathisch. Ob in dieser Kirche wohl immer solche Kirchenmänner am Werk waren?

Ich sitze und schaue mich um. Mit Anfängergeist schweift mein Blick umher. Bleibt an manchen Stellen haften. Dann zieht er weiter.

Freskenreste laden ein

An den Wänden sind mehrere Freskenreste zu sehen. Rot. Grün. Gelb. Eine Bordüre. Ein Stück weit zumindest. Dann wieder freigelegte Mauer. Ziegelsteine sind erkennbar. Wer waren wohl die Menschen, die diese Kirche erbaut haben, frage ich mich. Was für Lebensgeschichten sie wohl erzählen könnten, spinne ich weiter. Ob sie Kinder hatten? Vielleicht im Streit aus dem Haus gegangen sind, bevor sie diese Mauer errichtet hatten? Oder ob sie hungrig waren, weil es nicht viel zu essen gab? Möglicherweise hat es auch geregnet. So wie heute.

Ich versinke in meinen Gedanken.

Ein Steinchen neben dem anderen

Mein Blick schweift auf den Boden. Er ist ein riesiges Mosaik. Besteht aus tausenden Mosaiksteinen. Ergeben ein wunderschönes Muster. Das Muster zieht sich durch die gesamte Kirche. Ich verliere mich wieder. Nehme wie in Watte gepackt ein paar Gesprächsfetzen wahr. Der Inhalt interessiert mich nicht. In meinem Kopf stehen neue Fragen Schlange:

Wie viele Menschen diesen Boden wohl schon betreten haben? Und aus welchem Grund? Hochzeiten haben wir hier schon als Zaungäste miterlebt. Auch kirchliche Feiern und Prozessionen. Trauerfeiern noch nicht. Messen sehr wohl. Hiesige und Fremde sind schon über diesen Boden gegangen. Hmmm – der Boden hat schon viel getragen. Ertragen. Ausgehalten. Stand gehalten. Gehalten.

Da fällt mir wieder das Lied ein, das mir meine Unterstufen-Freundin und Oberstufen-Kollegin Tina per WhatsApp gestern geschickt hat. Hold mi – mein Gott, was hat mich dieses Lied berührt.

Hoid mi

Mein Blick wandert wieder zu der Mauer mit den Freskenresten. Ich rutsche hinüber. Schaue sie mir genauer an. Hmmm – manches hält noch. Manches ist abgefallen. Hat sich gelöst. Hält nicht mehr. Aber diese Farben. Da. Die halten noch. Sind noch lebendig. Dann erkenne ich die Schichten. Die Mauerschichten. Die, die Ziegelsteine verstecken. Schützen. Überdecken. Halten. So viele Schichten, denk ich mir. So viele Schichten. Hmmmm – wie unser Leben. Das besteht auch aus Schichten. Und aus Geschichten. Ja, es sind die Geschichten, die uns zu dem machen, was wir sind.

Die Geschichten halten die Schichten zusammen und manchmal verlieren wir im Laufe unseres Seins Schichten. Was in jedem Fall übrig bleibt, sind Geschichten. Und manchmal Spuren, wie die in der kleinen Kirche, die ich so sehr liebe. Die, in der ich mich gehalten fühlen.



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