An der großen Brücke


26.08.2022 / Claudia Pinkl /

Das Leben weiß, wann es gefordert ist. Schickt Boten, Wegbereiter, hilfreiche Sätze oder Worte. Sogar die Schwalben bleiben noch ein bisschen länger. Sie fliegen aufgeregter als sonst umher. Es scheint, sie sammeln sich.

Wie geht es weiter?

Der Spaziergänger und die kleine Schwarzföhre sehen sich mehrmals am Tag. Überlegen gemeinsam. Ziehen an einem Strang – so wie immer. Auch der kleine Schmetterling, der sich nur im Garten der kleinen Schwarzföhre aufhielt, bringt sich ein. Die Frage steht im Raum: Wie geht es weiter? Was ist es genau? Was bedeutet das? Was können wir tun? Ob es etwas gibt, das sich die große Schwarzföhre noch wünscht? Doch dafür muss man Klarheit haben. Es wäre schön, wenn uns jemand Auskunft auf Herzenshöhe (nicht nur auf Augenhöhe) geben kann…

Ein Anruf

Am späten Vormittag gibt es ein Gespräch. Mit einer Oberärztin, die im gleichen Wald wohnt wie die kleine Föhre. Die den Schmetterling und den Spaziergänger seit klein auf kennt. Die die große Schwarzföhre ärztlich betreut. Und so bekommen wir Antworten auf viele Fragen, die im Raum stehen. Auch die Diagnose wird uns erklärt. In Herzsprache mit einigen ärztlichen Ausdrücken, die einfach sein müssen. Dass genau diese Ärztin vor mir steht, als ich aus dem Lift steige, weil ich Mama zum 2. Mal besuche, ist Fügung.

Sie schläft

Als ich dieses Mal das Zimmer betrete, weiß ich viel mehr als beim ersten Mal. Ich weiß, dass ich willkommen bin. Kenne die Diagnose. Obwohl, unter uns gesagt, es völlig nebensächliche ist, aus welchem Grund die große Föhre von den Schwalben in den Süden begleitet wird. Leise betrete ich den Raum. Sie schläft. Hmmm – mein Herz sticht. Ich schlucke. Atme ein. Atme aus. Sie öffnet die Augen. Sondiert sich und lächelt. Ich schmunzle in mich hinein. Sie hat heute keine Zähne drinnen. Ich darf sie sehen, wie sie ist. Schön. Schön, dass du da bist!

Meine Rosenfreundin

Mama begrüßt mich als ihre Rosenfreundin. Erzählt, dass sie die Rose und die Schwalbe immer wieder bestaunt und sich daran erfreut. Hmm. So einfach kann es sein… Wir plaudern ein wenig. Dann nehme ich ihre Hand. Halte sie mit beiden Händen. Drücke sie und sage, dass es nun eine Diagnose gibt. Sie schaut erstaunt. „Jetzt schon?“, fragt sie. Ja, jetzt schon und viel zu früh.

Und sie erzählt, was sie denkt, dass die Ärzte herausgefunden haben. Ja, das alles und noch mehr. Ich versuche ihr in Herzsprache zu vermitteln, dass sich der Parasit in ihrem Körper ausgebreitet hat. Dass er der großen Föhre die Kraft nimmt, sie von innen her auffrisst. Sie schließt die Augen. Wartet einen Moment. Dann sagt sie: „Ich habe ja mein Pflaster. Es tut mir nicht weh.“

„Aha. So ist das.“

Das ist Satz, den meine Schüler*innen in den Ausbildungen sehr gut von mir kennen. Aha, so ist das. Ob sie das wirklich gesagt hat?! Ich kann es nicht glauben. „Nun, alles hat ein Ende“, fügt sie an. Da weiß ich nicht, ob ich atme oder nicht. Ich spüre nur den Schmerz, die Tränen, ihre Hand, die ich in meiner Angst, Trauer und Überwältigung beinahe zerdrücke. In der nächsten Stunde überlegen wir, was wohl das Beste für sie ist, wenn sie stabil ist. Wenn sie aus dem Krankenhaus darf. Ob ich Lösungen kenne? Was wohl der Spaziergänger dazu sagt? Wie es wohl mit Papa weitergeht?

Dann falle ich euch nicht zur Last

Wie reflektiert sie ist. Sie sagt mir, was wo liegt. Was wir abtauen müssen, ausräumen sollen oder wo wir genau nachsehen sollen. Und dass ihr die Idee mit dem Hospiz ganz gut gefällt. „Wenn es etwas mehr kostet – auch egal. Es soll mir gut gehen. Und ich will euch nicht zur Last fallen.“ Ich lache. Streichle sie an der Wange. „Ja, es soll dir gut gehen.“

Ich bleibe noch bei ihr. Sie isst 12 Löffeln Suppe und jammert über das viele Essen. Freut sich, dass der Koch ein so feines Mahl zubereitet. Beim Verabschieden sagt sie mit einem Lächeln im Gesicht:

„Danke für deinen Besuch! Wir sehen uns an der großen Brücke!“



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