Ein Vogel als Handschmeichler


24.08.2022 / Claudia Pinkl /

Auf Besuch kommen. Etwas mitbringen. Bloß was?! Blumen? Was Süßes? Etwas zum Anhalten? Was bringt man mit, wenn man sich nach Jahren zum ersten Mal wieder sieht und möglicherweise zum letzten Mal?

Beschäftige deinen Geist!

Die Nacht war ok. Es gab zumindest phasenweise Schlaf. In der Früh habe ich mir Listen geschrieben. Dinge, die erledigt werden müssen. Um mich abzulenken. Um geschäftig zu bleiben. Um nicht ins Grübeln zu geraten. Nachdem ich den Poolroboter aktiviert, den Müll entsorgt und drei Einkaufslisten geschrieben hatte (…nein, wir brauchen in Wahrheit nichts, gar nichts!), setzte ich mich und starrte auf die Muhkuh-Wiese. Schwalben flogen. Zeigten ihre Flugkünste. Zauberten ein Lächeln in mein Gesicht. Noch sind sie da, war der pinklfrausche Gedanke. Noch ist SIE da, schoss es nach. Von Schwalben hat Mama immer erzählt. Sie waren die Lieblingstiere ihrer Großmutter, also meiner Urgroßmutter. Eine feine Frau aus Hamburg, die ich nicht mehr kennenlernen konnte.

Schwalben – sie kommen und gehen

Wie der Atem, denke ich. Der kommt und geht auch. So kommen und gehen Schwalben. Sie sind dem Himmel so nah. Da spüre ich es: Eine Träne bahnt sich den Weg über meine Wange. Tropf. Sie kommen und gehen. Die Tränen, die Schwalben, die Menschen.

Ich hole Luft. Atme ganz bewusst ein. Spüre, wie sich mein Brustkorb füllt. Wie mein Bauch größer wird. Wie Sauerstoff mich belebt. Tropf. Die nächste Träne. Atmen. Wie lange wird sie es noch können? Wie wird es heute werden? Wie werde ich mich fühlen? Wie wird es sich anspüren?

Ich merke, dass ich in der Zukunft bin. Dass ich den Gedankenangeboten gefolgt bin. Dass ich überlege, wie ich zu sein habe. Frage mich, ob sie etwas erwartet? Da merke ich, wie mein Herz schneller zu klopfen beginnt. Merke, dass mein Gedankenkarussell losfährt.

Wo ist der Stopp-Knopf?

Ausatmen. Einatmen. Pause. Ausatmen. Pause. Einatmen. Pause. Es ist nicht mehr und nicht weniger. Mehr kann ich nicht tun. Ich bin. Das ist genug. Ich gehe in den Garten. Drehe meine Runden. Weil mir bewusst wurde, dass ich von meiner Mutter im Haus nichts habe. In meiner Schmuckschatulle auch nicht wirklich etwas. Aber der pinklische Garten, der besteht zu 90 Prozent aus Ablegern, die im elterlichen Garten gewachsen sind. Ich nehme die Büsche und Sträucher ganz anders wahr als sonst. Es ist als würden sie mit mir reden. Der Perückenstrauch spricht mit der kleinen Schwarzföhre. Und die Fliedersträucher, die Forsythien, die Sommerflieder – alle schicken ihre Wurzeln los und verbinden sich mit mir. Da fällt mein Blick auf jenen Rosenstrauch, der früher im Garten meiner Eltern wuchs. Nimm ihn mit, hat sie damals gesagt. Setze ihn ein – er blüht von Mai bis in den Oktober hinein. Länger, als die Schwalben bei uns sind. Das ist es!

Ein Glück auf der Kommode

Ich laufe ins Haus zurück. Rein ins Esszimmer. Dort ist es! Genau – hier ist der kleine Vogel – die kleine Schwalbe, die seit vielen Jahren auf der Kommode steht. Neben dem Schriftzug „Glück“. Auf dem handgehäkelten Deckchen der Hamburger Urgroßmutter. Irgendwann habe ich ihn gekauft. Nach meinem Doktoratsabschluss zum Glück gesetzt. …Jetzt weiß ich warum…

Behutsam nehme ich den Vogel an mich. Erzähle ihm, dass ich ihn heute mitnehmen werde. Dass er mein Glücksbringer und Friedensvermittler sein wird. Für mich. Für sie. Dass es Glück ist, nochmal einen Neubeginn wagen zu können. Dass es Glück dafür braucht, um in frieden gehen zu können. Dass dieses Glück jetzt ein Vogel ist, das sich gut in der Hand anfühlt. Das wärmt. Das Vertrauen bringt. Das der beste Handschmeichler für die kommende Zeit sein wird. Und wenn der kleine Vogel wegfliegt, dann weiß er, wohin er muss. Er wird den Süden finden. Instinktiv. Das weiß ich.

Die Rose ruft

Ich küsse den kleinen Handschmeichler, die kleine Schwalbe, liebevoll auf den Kopf. Langsam gehe ich mit meinem Glücksbringer wieder in den Garten hinaus. Wir stehen gemeinsam vor der Rose. Ich spüre nach. Beschließe von der Rose etwas in Krankenhaus mitzubringen. So hat sie ihren geliebten Garten bei sich. Und ich habe sie bei mir. Die kleine Föhre in mir lächelt. Föhren und Rosen, Schwalben und Glück, Mutter und Tochter – das gehört einfach irgendwie zusammen und findet zueinander. In irgendeiner Weise.

So wie die Schwalben nach ihrer Reise in den Süden wieder zu uns zurückfinden. Manchmal sind eben Strecken der Stille dazwischen.

So wie beim Atmen Pausen eingelegt werden. Es geht weiter – solange man lebt und das Glück hat, einfach zu sein. Noch halte ich den kleinen Handschmeichler in meiner Hand.



Zum vorhierigen Beitrag
Zum nächsten Beitrag