Nagel im Reifen


29.08.2022 / Claudia Pinkl /

Piep. Ein äußerst unangenehmes Geräusch. Ein oranges Zeichen. Es leuchtet auf dem Display auf. Reifendruck kontrollieren. Verdammt. Die Luft geht aus.

Nicht schon wieder!

Nägel in den Reifen – das ist eine Spezialität in Pinklhausen. Keine Ahnung wieso, aber Nägel, Schrauben, Metallstifte ziehen wir an. Also genauer gesagt: ICH. Seit vielen Jahren bohren sie sich in die Reifen meiner Fahrgestelle. Lassen die Luft aus. Ganz langsam. Echt jetzt – ich kann nicht mehr!

Ich will nicht mehr!

Das gibt es bitte doch nicht! Im Frühsommer ein Nagerl, jetzt ein Metallstift. In den letzten Jahren waren es einige Schrauben, Nägel und sonstige Metalldinger. Gefühlt waren es eine Hand voll solcher Dinger.

Uahhhh! Ich könnte schreien. Springen. Hüpfen. Stampfen. Hab das Gefühl, dass es mich zerreißt. Da kommt so eine Wut in mir hoch – ich kann es nicht beschreiben. Schon wieder so ein blöder Metallstift, der mir die Luft zum Atmen nimmt.

Hab ich das jetzt wirklich geschrieben? Der MIR die Luft zum Atmen nimmt? Hmmmm. Dieses Reifenbohrdings nimmt ja nicht mir die Luft. Er nimmt dem Reifen die Luft. Lässt Luft raus. Macht Platz. Zwischen dem Gummi. Und da kann dann die Luft entweichen.

Platz zwischen dem Gummi

Da ist er wieder. Einer meiner Lieblingssätze. Er kommt mir in den Sinn: Zwischen Reiz und Reaktion ist ein Raum. Doch jetzt gerade spielt er mich an die Wand. Schmeißt mich zurück. Reißt ein Loch auf, das schon zig Male vulkanisiert wurde. Mit Pflaster überklebt wurde. Und dennoch: Luft zischt raus. Leise. Beinahe unmerkbar. Ein Schleichpatschen lässt grüßen.

Aaaaahhhhhh!

Da ist gerade gar kein Raum. Kein Loch. Nicht mal ein Luckerl. Da ist ein Vakuum. Ein riesiges Vakuum. Da ist etwas, auf das ich nicht mehr hinschauen wollte. Das ich so oft und so lange mit mir herumgetragen habe. 47 Jahre lang. Es bearbeitet habe – nach allen Künsten. 7 Jahre lang. Und länger. Mit allen Mitteln. Und dennoch: Dieses Loch lässt mir die Luft aus.

Ich könnte schreien vor Wut. Meinen Zorn hinausposaunen. Mich vergessen.

Ich weiß, dass Aggression eine der Trauerphasen nach Kübler-Ross ist. Weiß, dass Grant dazugehört. Dass es sein darf, nein, muss! Weiß, dass dieses Aggressionsloch jetzt da ist. So, wie das Loch in meinem Reifen da war.

Wer das Loch schließen kann?! Beim Auto der nette Mann, der mein Fiat 500-Patscherl heute in der Früh repariert hat. Bei mir? Hmmm. Wohl nur ich.

Doch jetzt darf mal die Luft, die Wut, die Trauer, die Angst und die ganze Aggression, die ich seit vielen Jahren zurückhalte, wohl einfach mal raus. Raus in Form von Tränen. Von Schreien – in den Polster hinein. In Form von Schritten. Sicherlich nicht in Worten. Nicht in Beleidigungen. Nicht in Demütigungen. So sicherlich nicht. Denn dann wäre die ganze Arbeit – die Arbeit an mir, an meiner Familie, an meiner Gewordenheit – der ganze Friede, der in mir wohnt mit der Luft raus. Und das will ich nicht.



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