Über den Schatten springen


30.08.2022 / Claudia Pinkl /

Und dann gibt es Momente im Leben, da springt man einfach. Hopp. Naja, vielleicht nicht ganz so einfach. Weil die Gewordenheit mit Werbeslogans daherkommt und einem die Ohren vollsäuselt.

Nie! Niemals wieder!

Niemals wieder werde ich einen Fuß in dieses Haus setzen. Ich schwöre. Nie mehr!

Ich sehe mich, wie ich es schwöre. Es rausheule. Rausschreie. Still in mich hinein. Und raus in die Welt, wenn man mich fragt: Was macht der elterliche Wald? Wie geht es der großen Schwarzföhre und der alten Eiche? Was, kein Kontakt mehr?! Wie, Funkstille?! Bitte warum – unerwünscht?! Ich konnte dann immer nur mit den Schultern zucken. Ich wusste es nicht. Verstand es selbst nicht.

Vielleicht, weil ich anders bin

Bin ich wirklich anders? Ich bin auch eine Föhre. Die kleine eben. Und das Starke habe ich von der Eiche. Also, bin ich wirklich so anders? Wenn ich mich in den Spiegel schaue, dann erkenne ich es genau: Da, ein Stück der Eiche. Ohhhh, die Föhre hat auch solche Falten. Jössas, das Laub nimmt dieselbe Färbung an, wie die große Schwarzföhre und die alte Schwarzföhre. Dass hier mit Laub die Nadeln gemeint sind und in Wahrheit die Haare, muss wohl nicht dazugeschrieben werden. In jedem Fall: Das muss anders werden. Dieselbe Färbung – nein! Das will ich nicht. Ich will keine Ähnlichkeit mehr mit denen haben. Mit denen, die meinen, dass ich nicht mehr in ihren Wald passe. Ich muss anders sein. Ganz anders.

Warst du schon bei Papa?

Ob ich schon bei der alten Eiche war, hat sie mich letztens gefragt. Ich atme. Spüre mein Herz. Ohhhh – es klopft, sticht, brodelt. Nein, war ich noch nicht. Noch. Nicht. Davor hab ich Schiss, hätte ich sagen sollen, denke ich. Doch da meint die große Schwarzföhre mit kratziger Stimme: „Du. Ich hab ihm gesagt, dass jetzt niemand mehr da ist. Außer dir und die Kinder. Dass in dir und in den Kindern noch unser Blut fließt. Und was soll dicker sein als Blut?“

Ich schlucke. Ein Ring zieht sich um meinen Hals. Es brennt innen. Der Ring wird enger und enger. Jetzt kitzelt es im Hals. Und jetzt … nein. Nicht weinen. Nicht. Zu spät. Das Wasser in den Augen ist über den Beckenrand betreten. Land unter.

Was ist dicker als Blut?

Sie fragt mich, was dicker als Blut ist. Ich denke nach. Brauche ein bisschen. Brauche 3 Tage und Nächte, in denen ich nicht schlafen kann, weil so viele Gedanken durch den Kopf jagen. Eine Verfolgungsjagd auf der Autobahn abhalten. Was dicker ist als Blut?! Finde, dass das ein so blöder Satz ist. Weil er nicht gegolten hat. Über all die Jahre. Weil das Blut in mir nicht gezählt hat. Weil ich in mir abgespeichert hatte: Du hast eine Blutvergiftung. Du bist eine Blutvergiftung. Dein Blut ist vergiftet und du passt nicht mehr hier rein. Uaaahhhhhhh. So ein Schei*. Die Wut kommt schon wieder hoch. In meinem Glas glitzert es und blinkt es. Verdammt – so kann ich nicht ruhig denken.

Ich komme zur Frage zurück. Was ist dicker als Blut?

Liebe. Bedingungslose Liebe.

Liebe zu meinem Pinklmann. Liebe zu meinen Kindern. Zu meinen Hunden. Meinen Freundinnen und Freunden. Zu all jenen Wegbegleiter*innen, die bedingungslos für mich da sind. Ohne die Verbindung an erpresserische Vorgaben wie „Nein, deine Haare sind rot gefärbt!“, „Was? Mit diesem Körper willst du schwimmen gehen?“ oder „Wenn du rauchst, gepierct oder tätowiert bist, bist du unten durch!“ zu knüpfen.

Bedingungslos. Also ohne Bedingung. Ohne Ding dazwischen. Quasi ohne Nagel im Reifen. Ich lächle müde.

Ich sehe dich in deinem Schmerz.

Bedingungslose Liebe. Ist damit gemeint, dass man über seinen Schatten springt? Versprechen auflöst? Sich zusammenpackt? Hinfährt? Anläutet? Wartet bis einem die Tür geöffnet wird und sagt:

Ich sehe dich. Ich bin da. Für dich. Und für Mama. Bedingungslos da. Was war, ist die Vergangenheit. Sie darf im Außen bleiben. Darf Spaziergänge durch die Weingärten machen, während wir 2 überlegen, was du brauchst. Damit du leben kannst. Auch dann, wenn Mama nicht mehr ist.



Zum vorhierigen Beitrag
Zum nächsten Beitrag